Der Imam in der muslimischen Gemeinde , Datum: 19.10.2009, Format: Artikel

Im Morgengrauen beginnt sein Tag mit dem ersten Gebet. Wenn die letzten Strahlen der Sonne untergegangen sind, endet er mit dem letzten Gebet. Im Winter sind die Arbeitstage kürzer, im Sommer länger. Denn die täglich fünf islamischen Pflichtgebete, eine der fünf Säulen des Islams, verteilen sich von der Morgendämmerung über den Mittag, Nachmittag und Abend bis zum Beginn der Nacht. Die Leitung dieser fünf Gemeinschaftsgebete als Vorbeter (arab. Imam) ist die zentrale Aufgabe, für die ein Imam von einer Gemeinde gewählt wird. Dazu muss er die rituellen Abläufe kennen, den Koran auf Arabisch und "er sollte wenn möglich eine schöne Stimme haben", meint Erol Pürlü, Imam und Dialogbeauftragter des Verbands der islamischen Kulturzentren (VIKZ), denn "das Gebet nach dem Koran ist Rezitation, Ästhetik der Stimme, Musik, Klang, Atmosphäre".

Wer kann als Imam arbeiten?

In einer islamischen Gemeinde kann theoretisch "jeder männliche Muslim, der die notwendigen Qualifikationen vorweist, der also die rituellen Waschungen genau kennt, die rituellen Gebete und den Koran, zum Vorbeter erwählt werden", so Erol Pürlü. "Der Imam muss dieser Aufgabe nicht notwendigerweise hauptberuflich nachgehen, sondern er kann diese Tätigkeit auch neben seinem Beruf als Handwerker oder Kaufmann ausüben, mit dem er sich seinen Lebensunterhalt verdient."
Auch heute noch sind in kleineren Gemeinden sowohl in den Herkunftsländern als auch in Deutschland Imame im Ehrenamt tätig. Doch die Größe der Moscheen oder einiger Gemeinden erfordert immer öfter die ständige Anwesenheit des Imams, und so kommen in den Herkunftsländern in der Regel fromme Stiftungen für den Lebensunterhalt auf. Hier in Deutschland müssen die Gemeinden selbst 'ihren Imam' bezahlen, es sei denn, die Bezahlung erfolgt über einen der großen islamischen Verbände. Eine Sonderrolle nehmen die Imame der Türkisch Islamischen Union (DITIB) ein, die als Beamte des türkischen Staates nach Deutschland entsendet und vom Türkischen Amt für religiöse Angelegenheiten (Diyanet) bezahlt werden. Diese 'Entsendung' ist in mehrfacher Hinsicht eine Ausnahme in der islamischen Welt, denn einerseits ist dadurch das Wahlrecht der Gemeinde eingeschränkt, andererseits vermittelt sie den irrigen Eindruck, im Islam gäbe es Institutionen, die Imame beauftragen bzw. einsetzen könnten. Doch eine Amts-Beauftragung im Sinne der kirchlichen Ordination oder Weihe gibt es für Imame nicht.

Die traditionellen Aufgaben eines Imams

Neben dem täglich fünfmaligen Gebet gehören das Hauptgebet am Freitag und vor allem die Freitagspredigt zu den wichtigen Aufgaben des Imams. Hinzu kommen die religiöse Unterweisung von Kindern und Jugendlichen, der Unterricht des Arabischen als Sprache des Korans sowie dessen klangvolle Rezitation. Weder die Kenntnis des Konversationsarabisch, noch Koraninterpretation sind Ziel dieses Unterrichts, sondern vor allem die Aussprache und Phonetik, die notwendig sind, um "den Koran zum Klingen zu bringen", meint Erol Pürlü.
Hochzeiten, Beerdigungen, Kranken- oder Gefängnisbesuche und viele weitere Aufgaben, die zum Arbeitsfeld eines christlichen Pfarrers gehören, fallen traditionell nicht unter die Aufgaben eines Imams, auch wenn der Imam gerne gesehener Gast bei Hochzeiten, Beschneidungsfeiern oder Iftaressen während des Ramadans bei den Gemeindemitgliedern ist. Die Heirat selbst ist ein juristischer Akt und "für die rituellen Totenwaschungen, Krankenhausfürsorge oder seelische Betreuung z.B. in Gefängnissen sind traditionell in den islamischen Ländern die Familien zuständig, nicht der Imam", erläutert der marokkanische Imam Abdelmalik Hibaoui, Leiter des Projekts "Interkulturelle Öffnung und Qualifizierung islamischer Gemeinden" der Stabsstelle für Integrationspolitik in Stuttgart.

Rollenwandel in Deutschland

Wer vermag dem "Kleingedruckten" auf deutschen Lebensmittelverpackungen heute schon zu entnehmen, was z.B. "bio" oder was Kunstprodukt ist, geschweige denn, was 'halal', was 'haram' ist? Das in Deutschland fehlende islamisch-soziale Alltagsumfeld, der zunehmende Verlust traditioneller Kenntnisse religiöser und ritueller Grundlagen in den Familien stellt den Imam einer Gemeinde in Deutschland vor Fragen, die ihm in den Herkunftsländern nie gestellt wurden. Wie lassen sich hier die Speisevorschriften einhalten? Was ist im Todesfall zu tun? Wie erziehe ich meine Kinder im Glauben? Wie ist mit bi-religiösen Ehen umzugehen? "Familien fragen um Rat bei Konflikten in der Ehe oder Problemen mit Jugendlichen; der Imam wird zu Totenwaschungen gerufen, weil die Familien die rituellen Waschungen nicht mehr kennen; er muss heute erklären können, wie religiöses islamisches Leben in einem mehrheitlich nicht-islamischen Umfeld möglich ist; er wird zum Berater in allen Lebenslagen, zum Psychologen, Lehrer und Seelsorger" meint Abdelmalik Hibaoui. Mehr noch, der Imam ist auch im Dialog gefordert, denn Krankenhäuser, Unfallnotärzte, Gefängnisse, Kindergärten und viele andere Institutionen in Deutschland suchen Rat, wie sie mit muslimischen Bürgern umgehen sollen.

Seelsorge als neue Aufgabe in islamischen Gemeinden

Für den geschichtlich aus der christlichen Tradition erwachsenen Begriff der 'Seelsorge' und des seelsorgerlichen Handelns gibt es im Arabischen oder Türkischen weder ein sprachliches noch ein inhaltliches Pendant. 'Dini Rehberlik' (etwa: Religionsführung) hat man in den letzten Jahren als Begriff im Türkischen dafür geprägt. Doch trifft dies die Inhalte nur ungenau und so ist es hierzulande auch im muslimischen Sprachgebrauch erfreulich unverkrampft bei dem Begriff der 'Seelsorge' geblieben. Die hohe Bedarfslage lässt keine Zeit für Terminologie-Diskussionen. Imame in Deutschland stehen durch diese neuen Anforderungen vor vielfältigen Problemen. "Es kann passieren, dass Gemeinden ihrem Imam vorwerfen, er kümmere sich mehr um diese neuen Aufgaben und Fragestellungen als um seine traditionellen Verpflichtungen", meint Abdelmalik Hibaoui, "und das kann zur Folge haben, dass eine Gemeinde die betreffende Person als Imam absetzt". Andererseits ist der Imam auch nicht für diese zahlreichen neuen Aufgabenfelder ausgebildet, weder als Psychologe, noch als Familienberater, Lehrer oder Seelsorger. Die Vielfalt der Aufgaben wird sicher in Zukunft auch nicht auf dem Imam allein ruhen, sondern auf mehreren kompetenten Frauen und Männern inklusive der Imame, die sich inzwischen in Kooperation mit kirchlichen Einrichtungen in Anforderungen der Seelsorge fortbilden.

Marfa Heimbach, 19.10.2009.

Zur Person: Marfa Heimbach ist Islamwissenschaftlerin, freie Autorin des Westdeutschen Rundfunk Köln und leitet im Auftrag der Bundeszentrale für politische Bildung das Dialogprojekt für Pfarrer und Imame "Religionen im säkularen Staat".